Umweltmedizinische Erkenntnisse von heute sind die Prävention
für morgen
Dr.
med. Michael P. Jaumann
Vorwort:
Prävention ist derzeit in aller Munde und soll gefördert
werden. Dies ist sicher wichtig, fragt sich nur, wer die Kosten
dafür tragen soll. Allerdings ist vorstelbar, dass Prävention im
weiteren Sinne sich auszahlt, indem Krankheiten weniger häufig
werden. Die Krankheitsmuster und Krankheitshäufigkeiten sowie
deren Verteilung regional haben sich in diesem Jahrhundert
dramatisch verändert. Die Infektionskrankheiten sind weitgehend
unter Kontrolle. Die wichtigsten Krankheiten, mit denen auch
unsere Kinder konfrontiert werden, sind rasant steigende
Häufigkeiten von Allergien, die Asthmamortalität hat sich
verdoppelt, die Inzidenz an Leukämie, Hirntumoren und Diabetes
ist gestiegen, die entwicklungsneurologischen Störungen und
Verhaltensauffälligkeiten (ADD, ADHD*) sind inzwischen weit
verbreitet. Diese Entwicklungen drohen unsere Sozialsysteme zu
sprengen.
Erstmals bietet die Umweltmedizin als ein interdisziplinäres
Fach Möglichkeiten, diese fachübergreifenden Sachverhalte zu
untersuchen und die Bewertungen in neuen vernetzten
Zusammenhängen darzustellen. Neue immunologische und
molekularbiologische Erkenntnisse ermöglichen das
pathophysiologische Verstehen der Entstehung vieler "neuartiger"
Erkrankungen. Die Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen wären,
dass in vielen Fällen Erkrankungen vermieden werden könnten,
wenn die Exposition gegenüber toxischen Fremdstoffen reduziert
werden würde.
Einleitung:
Der Menschen und seine Umwelt stehen in einer sehr engen
Beziehung. So gibt es heutzutage mehr denn je zuvor Substanzen,
die Gesundheitsrisiken nach sich ziehen. Das rasante Wachstum
moderner Technologien in unseren Industrie- und
Wohlstandsgesellschaften ist begleitet von der Verbreitung
neuartiger Substanzen, mit denen die Menschheit und die Mitwelt
in der Evolution bisher nicht konfrontiert waren. Anorganische
Schadstoffe stehen hier neben organischen Schadstoffen wie
Pestiziden, Formaldehyd, Lösungsmitteln, Terpenen,
Reinigungschemikalien, Zigarettenrauch, Verbrennungsprodukten
und Drogen.
Die bisherige Kenntnis über die Wirkungsmechanismen von
Chemikalien beruht
auf der Wirkungsweise von hohen Dosierungen bzw.
Vergiftungen. Für das
* Abkürzungen siehe Legende
Entstehen chronischer Schäden, die oft erst nach jahrelanger
Einwirkung in oft minimalen Mengen, zusammen mit einer Unzahl
anderer Stoffe, auftreten, gibt
es
zunehmende Hinweise. Seien wir doch ehrlich? Wir Menschen und
wir Mediziner sind nur bereit, etwas als Phänomen wahrzunehmen
und eine Kausalität zu akzeptieren, wenn es eine mechanistische
Erklärung auf dem Boden unseres naturwissenschaftlichen
Weltbildes gibt. Bei Gesundheitsstörungen, die möglicherweise
umweltbedingt bzw. komplexer Art sind, stecken wir in einem
Dilemma. Wir tun uns schwer, Beschwerden zu Akzeptieren, wenn
sie nicht - evtl. noch nicht - mit unserem subtilen
diagnostischen Arsenal objektivierbar sind.
Ich
möchte deshalb versuchen, Ihnen eine neue Sicht für diese
zunehmenden Zahlen von Patienten mit Allergien, Kopfschmerzen,
Ohrgeräuschen, Schwindel, Hörstörungen, chronischer Bronchitis,
Asthma und rheumaähnlichen Autoimmun-Erkrankungen anzubieten.
Die Menschheit hat in diesem Jahrhundert etwa 10 Millionen
neuartiger chemischer Substanzen geschaffen, deren Auswirkungen
auf uns Menschen, unser Immun-, Hormon- und Nervensystem wir
erst langsam erkennen.
Inhalative Belastung
Besonders gefährlich für uns Menschen ist die inhalative
Belastung mit Fremdstoffen. Dies betrifft insbesondere die an
Feinstaub und Feinststaub gebundenen Stoffe, die nach neuen
wissenschaftlichen Erkenntnissen (20) zu fast 100%
vom Organismus aufgenommen werden (Abb. 1). Die
Blut-Hirn-Schranke, ein Schutzmechanismus für unser Gehirn, ist
für die meisten dieser Stoffe kein Hindernis. So können gerade
die besonders gefährlichen lipophilen Stoffe wie
Kohlenwasserstoffe, Hexachlorbenzol, polychlorierte Biphenyle,
Dioxine und Furane mühelos die Bluthirnschranke überwinden. Nach
Passage der Phospholipid-Bausteine der Zellmembranen lagern sich
diese Stoffe an Nervenscheiden (Myelin) oder an die Hirnsubstanz
an und verursachen entzündungsähnliche Veränderungen, Störungen
bzw. Schädigungen. Dies betrifft insbesondere in die
rhinencephalen Strukturen, den Hypothalamus, das limbisches
System, die temporalen Hirnregionen und den Hirnstamm. Der
Hypothalamus und der Hippocampus mit Amygdala sind ein Hauptziel
für die Toxine (29) und betrifft damit die
wichtigsten Schaltstellen neuronaler Informationswege, das
autonome Nervensystem ebenso wie die hormonelle Steuerung der
Hypophyse (3;9) (Abb. 2).
Hinzu kommt, dass es durch diese Fremdstoffe am respiratorischen
Epithel zu einer Herabsetzung der Zilienschlagfrequenz und
Steigerung der Permeabilität kommt (4;22). Hierdurch
gelangen sowohl Allergene als auch andere Stoffe leichter in das
darunter liegende Bindegewebe, wo sich Mastzellen und andere
proinflammatorische Zellen befinden. Dies und die verstärkte
Durchblutung verursachen eine erhöhte Permeabilität der
Gefäßwand mit vermehrter interstitieller Flüssigkeit. Hinzu
kommt, dass diese "Entzündungen" sensorische Nervenfasern in der
Schleimhaut stimmulieren und eine neurogene Entzündung mit
nachfolgender Vasodilatation, Ödem, Schleimsekretion und
möglicherweise Kontraktion der glatten Muskulatur verursachen (17).
Mitursache für eine solche neurogene Entzündung ist die
neuroimmunologische Kopplung. Bei dieser bindet sich Histamin
aus Mastzellen an den Rezeptoren sensibler Nervenfasern und
bedingt die Freisetzung der Substanz P, die sich ihrerseits
wieder an Rezeptoren von Mastzellen bindet und eine neuerliche
Degranulation in Gang setzt. Weiterhin zeigt sich, dass die von
den Epithelzellen produzierten Zytokine die Konzentration der
Adhaesionsmoleküle auf den Endothelzellen steigern (18)
und es über diesen Mechanismus ebenfalls zu einem vermehrten
Einstrom von Entzündungszellen in die Schleimhaut kommt. Ein
weiteres Problem sind die Teilchen kleiner 1-3 µm, welche bis in
die Lungenbläschen gelangen und dort oftmals für Monate und
Jahre verbleiben, insbesondere dann, wenn die Oberfläche der
Lunge durch Luftverschmutzung, Zigarettenrauchen oder
rezidivierende Entzündungen verändert ist (Abb. 3).
Untersuchungen in Österreich und Deutschland zeigten, dass sich
auf Staubpartikeln und Pollenoberflächen organische Agglomerate
und neuartige Eiweiße als Ausdruck einer Freisetzung in Folge
exogener Belastungen fanden und hiermit das vermehrte Auftreten
von Pollenallergenen erklären. Die gleichzeitige Feinstaub- und
Pollenallergenpräsentation auf der Schleimhaut könnte ein Modell
für die simultane toxische und allergische Einwirkung auf die
Epithelien sein. Die Wirkstoffsynergie mit gleichzeitiger
toxisch-allergischer Affektion wäre eine gute Hypothese für die
erhöhte allergische Sensibilisierung bzw. Immunmodifikation in
westlichen Ballungsräumen. Neben den schon lange bekannten und
seit 40 Jahren zunehmenden "Pollenallergien" ist die rasant
ansteigende Allergisierungs- und Erkrankungsrate bzgl. Latex ein
klassisches Beispiel (25) für diese hier dargelegten
Sachverhalte (Abb. 4). Über diese Mechanismen kommt es
zusätzlich bei erhöhten Belastungen mit Ozon (Verkehr) und
Kohlenmonoxid (Rauchen) zu einem verzögerten Wachstum der Lunge
bei Säuglingen und Kleinkindern (5;7).
Neurotoxische Substanzen / Autoimmun-Erkrankungen
Neurotoxische Schäden des Organismus und nachfolgende
Erkrankungen sind ein bisher wenig erforschtes Problem in der
Medizin. Untersuchungen über die additiven und synergistischen
Kombinationswirkungen von Xenobiotika (Pestiziden) in
subtoxischen Konzentrationen auf menschliche Fibroblasten (32)
belegten bei vielen Chemikalien nicht nur additive Schädigungen,
sondern auch vielfache synergistische Effekte. Und dies bei
subtoxischen Konzentrationen! So werden die starken
Lipophilitätsunterschiede der kombinierten Substanzen als
mögliche Ursache der synergistischen Effekte diskutiert (10).
Neben sensiblen und motorischen Störungen gehören die
Fehlfunktionen der Sinnesorgane bis hin zum kompletten Ausfall
eines Sinnesorgans (z.B. Hörsturz) zu den Frühsymptomen einer
neurotoxischen Schädigung. So bedingen Xenotiotika-Belastungen
eine Vorschädigung bzw. erhöhte Empfindlichkeit von Sinneszellen
(z.B. Innenohr, Netzhaut). Verschärft wird diese Situation durch
eine immuntoxische Ödembildung der Endothelien in den Gefäßen
mit nachfolgender Verminderung der Durchblutung (14)
(Abb. 5). Die Permeabilität der Gehirngefäße wird durch die
Bluthirnschranke bestimmt und kann manche Substanzen am
Übertritt in das Zentralnervensystem (ZNS) hindern (23).
Andererseits können Chemikalien, Metalle und Arzneimittel die
Permeabilität der Bluthirnschranke erhöhen (12;13).
Sehr häufig betroffen ist der Hirnstamm mit seiner Ansammlung
wichtiger Schaltstellen verschiedenster Nerven und Regelkreise (2).
Eine Ursache hierfür könnte sein, dass im Bereich der Formatio
reticularis und im Bereich des Hypothalamus (21)
keine Bluthirnschranke vorhanden ist.
Diese
anatomischen und pathophysiologischen Besonderheiten könnten
Ursache für die erhöhten Konzentrationen an Schwermetallen und
Organochlorverbindungen im Hirnstamm bei entsprechend
exponierten Versuchstieren sein (15).
Neueste Untersuchungsergebnisse belegen, dass der Hirnstamm bei
Menschen mit entsprechenden Vorbelastungen oder Expositionen am
Arbeitsplatz eine statistisch signifikante Verminderung der
dopaminergen D2-Rezeptoren im Corpus striatum aufwies. So
bestand eine Korrelation mit der Dauer der Schadstoffexposition
und der Schädigung der Dopamin-D2-Rezeptoren an den
postsynaptischen Membranen (16). Hypothese für die
Schadstoffwirkungen im ZNS könnte sein, dass die Schadstoffe an
den Hirngefäßen zu chronisch-rezidivierenden Vaskulitiden mit
immunogenen Entzündungsstadien führen. Schadstoffe wirken auf
das Immunsystem und induzieren eine Antikörperbildung, die zu
einer Dopamin-Blockade an der postsynaptischen Membrane führt (19).
So können Chemikalien mit niedrigem Molekulargewicht native
Proteine verändern, als Hapten wirken und eine
Autoimmun-Reaktion bewirken (27).
Diese Störungen bzw. Veränderungen des Immunsystems und der
Proteinfaltung haben Konsequenzen: Ein bedrohliches Beispiel ist
das Prionen-Protein (PrP), welches z.B. durch
Organophosphatpestizide zu krankhaftem Prionenprotein wird und
beim Tier BSE und beim Menschen CJK
(Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) auslöst (Abb. 6)°. Der weit
überwiegende Anteil der an CJK in Europa Verstorbenen war
nicht an der infektiösen Variante erkrankt. Bei
Untersuchungen in England ist aufgefallen, dass BSE bei Rindern
überwiegend auf den Bauernhöfen auftrat, die
Organophosphatpestizide benutzten (11;6;30).
Vergleichbare Mechanismen sind für die Entstehung der
Alzheimer-Erkrankungen und der Atherosklerose (24; 26;31;28)
bekannt geworden (Abb. 7).
°
Details siehe Nachwort
Derzeitige Situation
Innerhalb der letzten 50 Jahre ist es zu einer zusätzlichen
Verschiebung der Morbiditätsrisiken gekommen, so dass viele
Menschen – Dank des medizinischen Fortschritts - von der
Kindheit bis in das Alter Dauerpatienten sind und dass eine
Fülle neuartiger Erkrankungen wie MCS, CFS, SBS* und
Fibromyalgie über uns hereingebrandet sind. Obwohl erkennbar
ist, dass lineare monokausale Sachverhalte nicht mehr gefragt
sind, sondern komplexe Ursachen die Menschen krankmachen, sucht
man bei den Verantwortlichen in Ärztekammern und Politik
vergeblich nach biokybernetischen Lösungsansätzen.
Psychosomatische Erklärungen, wie früher beim "Magenulkus-Typ"
sind schnell bei der Hand (Abb. 8). Vielleicht ist dies auch
eine Erklärung für die hohe Anzahl psychiatrischer
Krankenhausbetten. Es interessiert in diesem Zusammenhang nicht,
dass längst eine genetische Varianz entgiftender Enzymsysteme
der Menschen nachgewiesen wurde. Durch die molekularbiologischen
Erkenntnisse der letzten drei Jahre ist klar, dass zur
genetischen Disposition eine exogene Noxe als Auslöser einer
entsprechenden Erkrankung hinzukommen muß. Dies analog zur
Prionen-Theorie von PRUSINER (Nobel-Preis), dass der Faktor X
das Prion erst "infektiös" macht (1).
Wie
sehr Umweltschadstoffe die Zytokinexpression und damit direkt
das Leistungsprofil des Immunsystems beeinflussen, wie diese die
Expression von Zelladhaesionsmolekülen durch chronische
Metallzufuhr und die Induktion der archaischen
Heat-Shock-Proteine (HSP) verursachen, ist bestens untersucht.
So zeigen neueste Resultate aus dem Bereich der
Psycho-Neuro-Immunologie, wie bedeutsam die immunrelevanten
Zytokine für den Datentransfer im Zentralnervensystem sind.
Hiermit wurde auch belegt, dass Änderungen der immunologischen
Situation neurologische Störungen zur Folge haben können (8).
Zusammenfassung
Die Umweltmedizin, als ein interdisziplinäres Fach,
untersucht fachübergreifende Sachverhalte und stellt diese in
neuen vernetzen Zusammenhängen dar. Durch die Verknüpfung neuer
immunologischer und molekularbiologischer Erkenntnisse wird das
pathophysiologische Verstehen vieler "neuartiger" Erkrankungen
ermöglicht. Hinzu kommen epidemiologische Ergebnisse der letzten
Jahre, die belegen, dass in vielen Fällen Erkrankungen
* Abkürzungen siehe Legende
im
Zusammenhang mit Umweltbelastungen entstehen und vermieden
werden könnten, wenn die Exposition reduziert würde. Dies
wiederum bedeutet, dass die tagtägliche und ubiquitäre Belastung
der Bevölkerung mit Chemikalien, Schwermetallen und Lärm zu
vermindern ist.
Dies wäre in der Tat die bestePrävention für morgen!
Dr.
M. P. Jaumann Göppingen, den 16.10.99
Nachwort
Struktur des Prionenproteins
Nach der von Sir Stanley B. Prusiner vorgeschlagenen Theorie
werden bei den Prionenerkrankungen wie BSE und Scrapie durch
eine Gestaltänderung von zellulärem Prionenprotein PrP mittels
eines bisher nicht nachgewiesenen "Faktors X" krankhafte
Prionenproteine PrP-SC. hervorgerufen. Dies bedeutet
eine völlig neuartige Klasse von "Infektionskrankheiten" bei
diesem Modell übertragbarer Encephalopathien. So soll das
Prionenprotein selbst in seiner krankhaft veränderten
Scrapie-Form als infektiöses Agenz wirken. In dieser Form soll
es in der Lage sein, sich mit harmlosem zellulären
Prionenprotein zusammenzulagern. Dann wird in einem solchen
Komplex das zelluläre Protein PrP in die pathologische Form PrP-SC
überführt. Ist dieser Umwandlungsprozeß erst einmal eingeleitet,
kann im Körper die Menge an pathologischem PrP-SC
lawinenartig ansteigen. Die durch diesen sich selbst
beschleunigenden Prozess gebildeten veränderten Proteine werden
kaum abgebaut, sondern bilden im Gehirn Ablagerungen, quasi
Zellschutt, die sogenannten Plaques. Experten diskutieren
bereits, inwieweit die Infektionen generell sekundäre
Erscheinungen sind und ob Hitzeschockproteine (HSPs) zu Prionen
"degenerieren" bzw. fehlgefaltet (PFD) werden können.
Legende:
MCS Multiple Chemical Sensitivities
CFS Chronic Fatigue Syndrome
SBS Sick Building Syndrome
ADD Attention Deficit Disorder
ADHD Attention Deficit Hyperacitivity Disorder
µm Miikrometer
PFD Protein Folding Disease
BSE Bovine Spongioform Encephalopathy |