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Tagung "Umweltbelastungen und Gesundheit" am 9.6.99 in Bonn

 

Dr. med. Michael P. Jaumann

Veranstalter: SPD-Bundestagsfraktion

Umweltmedizin heute ist die Prävention für morgen

Dr. med. Michael P. Jaumann
Arzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Stimm- und Sprachstörungen, Umweltmedizin
Mitglied im Vorstand der kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg

Einleitung:

Das Wohlbefinden des Menschen hängt von seiner Umwelt ab.  Heutzutage gibt es mehr denn je zuvor Substanzen, welche die Erde belasten und Gesundheitsrisiken nach sich ziehen. Insbesondere das rasante Wachstum moderner Technologien in unseren  Industrie-/Wohlstandsgesellschaften ist begleitet von der Verbreitung neuer Substanzen,  mit denen die Menschheit und die Mitwelt in der Evolution bisher nicht konfrontiert waren. Anorganische Schadstoffe stehen hier neben organischen Schadstoffen wie Pestizide, Formaldehyd, Lösungsmittel, Terpene, Reinigungschemikalien, Zigarettenrauch, Verbrennungsprodukte und Drogen.

In diesem Zusammenhang ist wichtig darauf hinzuweisen, daß wir Menschen lebende Organismen sind, die sich aus etwa 40 Billionen Zellen zusammensetzen. Diese Zellen arbeiten kooperativ miteinander als folgten sie einem zwischen ihnen abgesprochenen Plan. Jede dieser Zellen ist  eine komplette biologische Einheit. Die Zellen kommunizieren miteinander und ihre Sprache ist  eine chemische und die Zeichen sind Moleküle. Jedes chemische Signal paßt zu seinem Empfänger.  Grundlage dieser höchst komplizierten und sensiblen Abläufe in den Zellen sind chemische  Reaktionen. Diese Chemie ist die komplizierteste, die wir kennen: Tausende von Reaktionen in jedem Moment in einem unglaublich verschachtelten Netzwerk. Somit ist es kaum verwunderlich, daß Moleküle von Chemikalien zu Störungen und Zerstörungen dieser Informationsabläufe führen können.

Unsere bisherige Kenntnis über die Wirkungsmechanismen von Chemikalien beruht auf  der Wirkungsweise von hohen Dosierungen bzw. Vergiftungen. Für das Entstehen chronischer  Schäden, die oft erst nach jahrelanger Einwirkung in oft minimalen Mengen, zusammen mit einer Unzahl anderer Stoffe, auftreten, gibt es zunehmende Hinweise. Seien wir doch ehrlich? Wir Menschen und wir Mediziner sind nur bereit, etwas als Phänomen wahrzunehmen und eine Kausalität zu akzeptieren, wenn es eine mechanistische Erklärung auf dem Boden unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes gibt. Bei Gesundheitsstörungen, die möglicherweise umweltbedingt bzw. komplexer Art sind, stecken wir in einem Dilemma. Wir tun uns schwer, Beschwerden zu glauben, wenn sie nicht mit unserem subtilen diagnostischen Arsenal objektivierbar sind.

Ich möchte deshalb versuchen, Ihnen heute eine neue Sicht für die zunehmende Anzahl von Patienten mit Allergien, Kopfschmerzen, Ohrgeräuschen, Schwindel, Hörstörungen, chronischer Bronchitis,  Asthma und rheumaähnlichen Autoimmun-Erkrankungen anzubieten. Die Menschheit hat in diesem  Jahrhundert etwa 10 Millionen neuartiger chemischer Substanzen geschaffen, deren Auswirkungen auf uns Menschen, unser Immun-, Hormon- und Nervensystem wir langsam erkennen. In Deutschland dürfen und werden 6.000 Chemikalien unseren Nahrungsmitteln bei den unterschiedlichsten  Herstellungsprozessen zugesetzt. Ganz zu schweigen von den verschiedensten Chemikalien an den Arbeitsplätzen und in unserer Atemluft, ob im Freien durch Industrie, Verkehr oder Müllverbrennung  bzw. im Haus durch Ausdünstungen aus den verschiedensten Baumaterialien und  Einrichtungsgegenständen.

Inhalative Belastung

Besonders gefährlich für uns Menschen ist in diesem Zusammenhang die inhalative Belastung  mit Fremdstoffen. Dies betrifft insbesondere die an Feinstaub und Feinststaub gebundenen Stoffe, die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen (NESSEL, 1990) zu 100% vom Organismus  aufgenommen werden. Die Blut-Hirn-Schranke, ein Schutzmechanismus für unser Gehirn, ist für die  meisten dieser Stoffe kein Hindernis: so können gerade die besonders gefährlichen lipophilen Stoffe wie Kohlenwasserstoffe, Hexachlorbenzol, polychlorierte Biphenyle, Dioxine und Furane  mühelos die Bluthirnschranke überwinden. Nach Passage der Phospholipid-Bausteine der Zellmembranen lagern sich diese Stoffe an Nervenscheiden (Myelin) oder an die Hirnsubstanz an und verursachen  entzündungsähnliche Veränderungen, Störungen bzw. Schädigungen. Dies betrifft insbesondere in die  rhinencephalen Strukturen, den Hypothalamus, das limbisches System, die temporalen Hirnregionen  und den Hirnstamm. Der Hypothalamus und der Hippocampus mit Amygdala sind ein Hauptziel für die  Toxine (WALSH, 1988) und betrifft damit die wichtigsten Schaltstellen neuronaler Informationswege,  das autonome Nervensystem ebenso wie die hormonelle Steuerung der Hypophyse (CORWIN, 1987; ISAACSON, 1992).

Hinzu kommt, daß diese Teilchen kleiner 3 µm, welche bis in die Lungenbläschen gelangen, dort oftmals für Monate und Jahre verbleiben, insbesondere, wenn die Oberfläche der Lunge durch Luftverschmutzung, Zigarettenrauchen oder rezidivierende Entzündungen verändert ist.

Untersuchungen in Österreich und Deutschland zeigten, daß sich auf Staubpartikeln und  Pollenoberflächen organische Agglomerate und neuartige Eiweiße als Ausdruck einer Freisetzung  in Folge exogener Belastungen fanden und hiermit das vermehrte Auftreten von Pollenallergenen erklären. Die gleichzeitige Feinstaub- und Pollenallergenpräsentation auf der Schleimhaut könnte  ein Modell für die simultane toxische und allergische Einwirkung auf die Epithelien sein. Die Wirkstoffsynergie mit gleichzeitiger toxisch-allergischer Affektion wäre eine gute Hypothese für die erhöhte allergische Sensibilisierung bzw. Immunmodifikation in westlichen Ballungsräumen.  Neben den schon lange bekannten und seit 40 Jahren zunehmenden "Pollenallergien" ist die  rasant ansteigende Allergisierungs- und Erkrankungsrate bzgl. Latex ein klassisches Beispiel (RUEFF, 1999) für diese hier dargelegten Sachverhalte. Über diese Mechanismen kommt es  zusätzlich bei erhöhten Belastungen mit Ozon (Verkehr) und Kohlenmonoxid (Rauchen) zu einem verzögerten Wachstum der Lunge bei Säuglingen und Kleinkindern.

Neurotoxische Substanzen / Autoimmun-Erkrankungen

Neurotoxische Schäden des Organismus und nachfolgende Erkrankungen sind ein bisher wenig erforschtes Problem in der Medizin. Untersuchungen über die additiven und synergistischen  Kombinationswirkungen von Xenobiotika (Pestiziden) in subtoxischen Konzentrationen auf menschliche  Fibroblasten (WITTE, 1995) belegten bei vielen Chemikalien nicht nur additive Schädigungen, sondern auch vielfache synergistische Effekte. Und dies bei subtoxischen Konzentrationen! So  werden die starken Lipophilitätsunterschiede der kombinierten Substanzen als mögliche Ursache der synergistischen Effekte diskutiert (JACOBI, 1996).

Neben sensiblen und motorischen Störungen gehören die Fehlfunktionen der Sinnesorgane bis hin zum kompletten Ausfall eines Sinnesorgans (z.B. Hörsturz) zu den Frühsymptomen einer neurotoxischen Schädigung. So bedingen Xenotiotika-Belastungen eine Vorschädigung bzw. erhöhte Empfindlichkeit  von Sinneszellen (z.B. Innenohr, Netzhaut). Verschärft wird diese Situation durch eine immuntoxische Ödembildung der Endothelien in den Gefäßen mit nachfolgender Verminderung der Durchblutung (KIRKPATRICK, 1996). Die Permeabilität der Gehirngefäße wird durch die  Bluthirnschranke bestimmt und kann manche Substanzen am Übertritt in das Zentralnervensystem (ZNS) hindern (OLDENDORF, 1987). Andererseits können Chemikalien, Metalle und Arzneimittel die Permeabilität der Bluthirnschranke erhöhen (JAUMANN, 1991; KATZMANN, 1981). Sehr häufig betroffen ist der Hirnstamm mit seiner Ansammlung wichtiger Schaltstellen verschiedenster Nerven und Regelkreise. Eine Ursache hierfür könnte sein, daß im Bereich der Formatio reticularis und im  Bereich des Hypothalamus (NRC, 1986) keine Bluthirnschranke vorhanden ist.

Diese anatomischen und pathophysiologischen Besonderheiten könnten Ursache für die erhöhten Konzentrationen an Schwermetallen und  Organochlorverbindungen im Hirnstamm bei entsprechend exponierten Versuchstieren sein (KORANSKY, 1989).

Eine weitere Besonderheit ist die hohe Konzentration des AH-Rezeptors  (aromatic hydrocarbon receptor), der in hohen Konzentrationen im Hirnstamm (Thalamus, Thymus) vorkommt und eine hohe Affinität für Dioxin, PCBs und andere chlororganische Stoffe hat (SILBERGELD, 1994). Dieses Rezeptor-Protein beeinflußt die Aktivität der Arylhydrocarbonhydroxilase (AHH) einerseits und verbindet sich andererseits  als Rezeptor-Liganden-Komplex mit Zellkernbestandteilen und beeinflußt hierdurch die Gen-Expression (VOS, 1991). Große physiologische Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Ah-Rezeptor und den Steroid-Rezeptoren (SILBERGELD, 1991).

Neueste Untersuchungsergebnisse belegen, daß der Hirnstamm bei Menschen mit entsprechenden Vorbelastungen oder Expositionen am Arbeitsplatz eine statistisch signifikante Verminderung  der dopaminergen D2-Rezeptoren im Corpus striatum aufwies. So bestand eine Korrelation mit der Dauer der Schadstoffexposition und der Schädigung der Dopamin-D2-Rezeptoren an den  postsynaptischen Membranen (LABOUVIE, 1997). Hypothese für die Schadstoffwirkungen im ZNS könnte sein, daß die Schadstoffe an den Hirngefäßen zu chronisch-rezidivierenden  Vaskulitiden mit immunogenen Entzündungsstadien führen. Schadstoffe wirken auf das Immunsystem  und induzieren eine Antikörperbildung, die zu einer Dopamin-Blockade an der postsynaptischen Membrane führt (MÜLLER, 1997). So können Chemikalien mit niedrigem Molekulargewicht native Proteine verändern, als Hapten wirken und eine Autoimmun-Reaktion bewirken (TRASHER, 1987).  Hier das Beispiel des Prionen-Proteins (PrP), welches z.B. durch Organophosphatpestizide zu krankhaftem Prionenprotein wird und beim Tier BSE und beim Menschen CJD  (Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) auslöst. Vergleichbare Mechanismen sind für die Entstehung  der Alzheimer-Erkrankungen und der Atherosklerose (PRUSINER 1998, STRONG 1999, WICK, 1997,  URNOWITZ 1998) bekannt.

Derzeitige Situation

So haben sich die Krankheitsmuster in diesem Jahrhundert dramatisch verändert. Die Infektionskrankheiten sind weitgehend unter Kontrolle. Die wichtigsten Krankheiten mit denen auch unsere Kinder konfrontiert werden, sind rasant steigende Häufigkeiten von Allergien, die Asthma-Mortalität hat sich verdoppelt, die Inzidenz an Leukämie und Hirntumoren ist gestiegen, entwicklungsneurologische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten sind inzwischen weit verbreitet.

Innerhalb der letzten 50 Jahre ist es zu einer zusätzlichen Verschiebung der Morbiditätsrisiken gekommen, so daß viele Menschen - Dank des medizinischen Fortschritts - von der Kindheit bis in das Alter Dauerpatienten sind und daß eine Fülle neuartiger Erkrankungen wie MCS, CFS und SBS und Fibromyalgie über uns hereingebrandet sind. Obwohl erkennbar ist, daß lineare monokausale Sachverhalte nicht mehr gefragt sind, sondern komplexe Ursachen die Menschen krankmachen, sucht man bei den Verantwortlichen in Ärztekammern und Politik vergeblich nach biokybernetischen Lösungsansätzen.

Psychosomatische Erklärungen, wie früher beim "Magenulkus-Typ" sind schnell bei der Hand. Vielleicht ist dies auch eine Erklärung für die hohe Anzahl psychiatrischer Krankenhausbetten. Es interessiert in diesem Zusammenhang nicht, daß längst eine genetische Varianz entgiftender Enzymsysteme der Menschen nachgewiesen wurde. Durch die molekularbiologischen Erkenntnisse der letzten drei Jahre ist klar, daß zur genetischen Disposition eine exogene Noxe als Auslöser einer entsprechenden Erkrankung hinzukommen muß.

Wie sehr Umweltschadstoffe die Zytokinexpression und damit direkt das Leistungsprofil des Immunsystems beeinflussen, wie diese die Expression von Zelladhaesionsmolekülen durch chronische Metallzufuhr und die Induktion der archaischen Heat-Shock-Proteine (HSP) verursachen, ist bestens untersucht. So zeigen neueste Resultate aus dem Bereich der Psycho-Neuro-Immunologie, wie bedeutsam die immunrelevanten Zytokine für den Datentransfer im Zentralnervensystem sind. Hiermit wurde auch belegt, daß Änderungen der immunologischen Situation neurologische Störungen zur Folge haben können.

Zahlreiche Autoren haben auf die Bedeutung der Entwicklung der Autoimmunität durch exogene Noxen im Rahmen von MCS, CFS und Fibromyalgie hingewiesen. Die Schulmedizin verweigert sich aber bisher, diese neuen Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen.

Die Umweltmedizin, als ein interdisziplinäres Fach, untersucht fachübergreifende Sachverhalte und stellt diese in neuen vernetzen Zusammenhängen dar. Neue immunologische und molekularbiologische Erkenntnisse ermöglichen das pathophysiologische Verstehen der Entstehung vieler "neuartigen" Erkrankungen wie MCS, CFS und Fibromyalgie. Die Konsequenzen dieser Erkenntnisse wären, daß in vielen Fällen Erkrankungen vermieden werden könnten, wenn die Exposition gegenüber toxischen Fremdstoffen reduziert werden könnte.

Dies bedeutet, daß die tagtägliche und ubiquitäre Chemikalienbelastung der Bevölkerung drastisch zu vermindern ist. Dies wäre in der Tat die beste umweltmedizinische Prävention für morgen!

Zur Frage des Tagungsthemas kann ich nur sagen, daß unser derzeitiges Gesundheitssystem durch Umdenken und Neudenken medizinischer Sachverhalte den medizinisch wissenschaftlichen und auch qualitativen Herausforderungen durch umweltbedingte Erkrankungen durchaus gewachsen wäre. Dies würde bedeuten, daß sich die bisherigen medizinischen Methoden nicht mehr ausschließlich an der Behandlung von Symptomen und Erkrankungen ausrichten, sondern zukunftsfähige Gesundheitsvorsorge und Prävention in den Fordergrund rücken.

Weniger optimistisch bin ich bzgl. der Frage, ob es unserer Gesellschaft gelingt, die widersprüchlichen Interessen der Menschen und der Chemie-Firmen und Industrie in einen fairen Ausgleich zu bringen. Klar ist, daß die gesundheitlichen Bedürfnisse des Individuums, die Konsum-Ansprüche und Verbrauchsgewohnheiten der Gesellschaft mit den Interessen der Wirtschaft in einem Spannungsfeld stehen. Deshalb wird eine alleinige Reform des Gesundheitswesens mit finanzieller Beschneidung des Wachstummarktes "Gesundheit" keinen Erfolg haben.

Ich möchte deshalb die Politik abschließend eindringlich bitten, durch eine Gesetzesänderung mit Beweislastumkehr bzw. einem Produkthaftungsgesetz, das Erreichen der von der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgegebenen Ziels "jeder Mensch hat Anspruch auf eine Umwelt, die ein höchst mögliches Maß an Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht" zu erreichen.

In diesem Sinne ist es mir sehr wichtig und finde ich es einen großartigen Schritt, daß sich die in der Regierungsverantwortung befindliche Bundestagsfraktion der SPD diesem äußerst wichtigen Thema von Umweltbelastungen und Gesundheit angenommen hat.





Dr. M. P. Jaumann

9.6.99





Anlagen

Folien 1-12 liegen alle hier in einer PDF Datei
 

(Folie1)Schadstoffe

(Folie2)Staubpartikel

(Folie3)Auswirkungen_von_Feinstäuben

(Folie4)Organchlor-Verbindungen

(Folie5)Chemikalien.doc

(Folie6)Immunologie

(Folie7)Naturlatexallergien

(Folie8)Chemikalien-Moleküle

(Folie9)Chemikalien-Molekülen

(Folie10)Chemikalien-Molekülen

(Folie11)Diabetes_mellitus

(Folie12)Wegweisend-Utopie


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